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Eine Charta für Europa, 1.2

 

(Als eine Art) Einführung zum Projekt der "Charta für Europa"

Francesco Salvini & Raúl Sánchez Cedillo (Fundación de los Comunes)

Europa als Raum denken, den es zu erfinden, zu entwerfen und zu konstruieren gilt. Diese kollektive Übung führte uns vor einigen Monaten in Madrid zusammen. Wir wollten Europa wieder als ein Territorium denken, dessen politische, institutionelle und produktive Ausgestaltung in unseren Händen liegt, das heißt, ein Territorium, das wir durch den Protagonismus der sozialen Kämpfe und durch eine Politik von unten im Alltag unseres Tuns hervorbringen können.

In diesem Sinn war der Raum, der sich während des im vergangenen März 2014 im Museum Reina Sofia abgehaltenen Treffens Nuevo Rapto de Europa öffnete, ein Ort, um an diesen Problemen mit neuen Methoden und Werkzeugen der Diskussion und Befreiung zu arbeiten. Es war ein Ort, wo sich die Vielen, denen diese akute und komplexe Situation zusetzt, eine Welt ausmalen können, in der viele Welten möglich sind – wie man im Lakedonischen Urwald zu sagen pflegt. Anders ausgedrückt, wir versammelten uns, um die Praxen der politischen Einbildungskraft in Europa ausgehend von einem Territorium des Tuns (Gesellschaft herstellen, das Gemeinsame der Menschen herstellen) neu zu denken, statt von einer ideologischen Organisation, Entwicklung und Verbreitung von Parolen auszugehen. Es standen dafür uns eine Reihe von Werkzeugen zur Verfügung, mit denen wir eine transeuropäische politische techné entwerfen konnten, die den Vielen, den Differenten und den a priori nicht Übereinstimmenden gemeinsam ist.

Ein vorläufiges, noch unfertiges Ergebnis dieses Raums politischer Zusammenarbeit ist die Charta für Europa, die ihr weiter unten findet. Neu an diesem offenen Prozess im vergangenen März in Madrid war jedenfalls das Schreiben dieser Charta im Netzwerk sowie der Versuch eines kollektiven Umgangs mit den zentralen Problemen, die mit der Organisation und dem politischen Handlungsvermögen außerhalb des Rahmens der Repräsentation einhergehen. Weit über das Mögliche hinaus versuchten wir – ausgehend von einer Positionierung, die auf kürzlich gemachten Erfahrungen beruht und durch diese fraglich geworden war –, die Demokratie als einen Neologismus zu bejahen und sie als gemeinsamen Ausgangspunkt zu verstehen, um Europa neu zu denken. Eine Demokratie, die wir uns nur gemeinsam aneignen können, einerseits indem wir ihre Verneinung ablehnen – wie das "von oben" geschieht, seitens einer europäischen Gouvernanz, die sich (den im Wesentlichen finanziellen) Interessen der Großkonzerne und der internationalen Geopolitik unterwirft. Andererseits indem wir uns eingestehen, dass die Krise der repräsentativen Demokratie auch eine Krise ist, die von unten kommt, aus den Mobilisierungen, die das Mittelmeer und Europa seit 2011 erschüttern und die, ohne auch nur den geringsten Zweifel offen zu lassen, darauf hinweisen, dass die Demokratie nur dann real werden kann, wenn wir alle, die den europäischen Raum bewohnen, ihn durchqueren und ihn erfahren, zu seinen Protagonist_innen werden.

Das Konzept der Charta war eigentlich immer schon Teil der kleinen und radikalen Traditionen europäischen Politik-Machens. Die Charta ist ein Ausdruckskörper, der das normative Feld nicht schließt, sondern vielmehr ein unerforschtes Territorium eröffnet, also Rechtsräume, die dadurch entstehen, dass ein transitorisches und unfertiges "Wir" einbricht – ein "Wir", das aber dennoch seine Kraft zu behaupten und das etablierte Spiel zu stören vermag. Wie wir alle wissen, steht die Charta in einer eng mit den historischen Formen der Gegenmacht verbundenen Tradition, die sich der absolutistischen und staatlichen Macht entgegensetzt. Es handelt sich dabei um eine Tradition, die nur formal und offiziell Teil der konstitutionellen staatlichen Tradition ist und die sich dem politischen und normativen Machtmonopol in seinen absolutistischen wie jakobinischen Varianten unmittelbar widersetzt. Seit der Magna Carta und der Forsturkunde war die Form der Charta das maßgebliche Dispositiv (und die maßgebliche Institution) für das Sprechen einer Gegenmacht der Mehrheit. Das gilt auch für die Revolten der deutschen Burgen, als die Korruption des Imperiums und der Heiligen Römischen Kirche auf immer radikalere Weise anprangert wurde. Und auch die Charta-Mobilisierungen im England des 19. Jahrhunderts und die Gewerkschaftsrevolten waren ein wichtiges Element, um die Art und Weise der kapitalistischen Ausbeutung zur Zeit der Industrialisierung auseinander zu nehmen. Die Form der Charta tauchte in den letzten Jahren schließlich auch auf den mediterranen Plätzen wieder auf, ebenso wie in Mobilisierungen für das Recht auf Bewegungsfreiheit und für die Verteidigung sozialer Rechte, die historisch mit einem impliziten Sozialpakt bzw. mit dem historischen Programm des Aufbaus des Wohlfahrtsstaats verbunden sind, und die heute mit einigem Sarkasmus als Bedrohung für die Stabilität, die Ökonomie sowie letztlich für die Demokratie betrachtet werden.

Dieses Dispositiv eines zugleich situierten und beweglichen politischen Ausdrucks – der einerseits Teil der Organisierungsprozesse von unten ist und dem es andererseits gelingt, in das Feld der staatlichen Gesetzgebung vorzudringen – wird durch die historische Konjunktur, in der die europäischen Eliten ihre Korruption und ihre Distanz zum Alltag der "Krise" offenbar werden lassen, sowie durch die Aktualität und die Versprechen dessen, was nach dem spanischen 15M als Technopolitik bezeichnet wurde, zunehmend wichtig und wirksam.

In diesem offenen Prozess, der letzten März in Madrid gestartet wurde, ist dieses Vermögen zur Organisierung neuerlich aufgeblitzt und hat gleichzeitig seine Schwächen gezeigt. Es war ein Raum, in dem wir die Kraft der horizontalen Versammlungspraxen durch kollektives Schreiben potenzieren konnten. Ein Schreiben, das es uns erlaubte, der Macht des Ausdrucks Platz zu verschaffen und damit unsere Arbeit wirkungsvoll werden zu lassen. Die Ausarbeitung eines ersten Entwurfs der Charta, in dem wir die politischen Probleme und Spannungen des gegenwärtigen europäischen Raums darlegen, führte zur Entstehung eines virtuellen Raums der Produktion, der auf der demokratischen Kraft der Hypertextualität basiert. Wir arbeiteten mit Wikis und Pads. Dies erlaubte es uns, die Spannungen und Diskussionen um die verschiedenen Punkte und Themen der Charta für Europa aufrecht zu erhalten, während wir gleichzeitig nach Berührungspunkten und gemeinsamen Aktionen, Deklarationen und Interventionen suchten.

Die Stärke dieses Modells beruht auf seiner Offenheit und folglich auf der Fähigkeit, nicht nur etwas Gemeinsames zu definieren. Es ging also nicht vorrangig darum, gemeinsame und überzeugende Herangehensweisen zu finden, die weder das Ergebnis einer Summe von Meinungen noch auch der "kleinste gemeinsame Nenner" sind, sondern vielmehr um die Invention einer Perspektive, die alle involvierten Differenzen und Singularitäten durchzieht und verändert – und die es vor allem aushalten kann, dass sich im Innersten dieses Gemeinsamen alle möglichen Differenzen und Zusammensetzungen finden. Es handelt sich um eine technische Invention, die nicht unserem kleinen und virtuellen Laboratorium in Madrid entspringt, sondern aus den Mobilisierungen des letzten Zyklus eines globalen Aufruhrs hervorgeht, der von den besetzten Plätzen und Netzwerken in Tunis und Kairo seinen Ausgang nahm. Diese Invention kann uns dabei helfen, auf das Problem der Organisation der Vielen und Unterschiedlichen, die Europa bewohnen, zu reagieren. Und sie bildet einen weiteren Raum, in dem eine andere Welt nicht nur gedacht, sondern heute und jetzt geschaffen werden kann. Es ist die einzige Möglichkeit die Demokratie als innovatives Ereignis zu realisieren, das die Weltordnung in ihrem Innersten zu erschüttern vermag.

Wir dürfen dennoch nicht vergessen, dass es sich hier um Werkzeuge handelt, deren Wirkmächtigkeit auf der Demokratisierung ihres Gebrauchs beruht, auf der tagtäglichen und molekularen Konstruktion einer in Bewegung versetzten Gesellschaft, die von Technopolitik durchzogen ist: eine Gesellschaft, die sich mittels dieser Werkzeuge selbst organisieren kann und dabei jeden Fetischismus, Elitismus und "Virtualismus" überwindet, die der politischen Aktion durch den Einsatz von digitalen und telematischen Werkzeugen in der jüngeren Zeit aufgebürdet wurden.

Was können die nächsten Schritte sein? Sicher ist, dass in dieser Situation niemand darauf beschränkt bleiben will, Zeugnis abzulegen. Es ist irgendwie frappierend, wie die von rechts und links kommenden euroskeptischen und europafreundlichen Kritiken an den gegenwärtigen Problemen zu dem Gefühl beitragen, dass nichts getan werden kann, außer von der Wahrscheinlichkeit zu sprechen, dass der Kontinent noch dunklere Zeiten erleben wird. Hätten sie nicht die vollkommen unerwarteten Aufstände in Griechenland und Spanien in den Jahren 2010 und 2011 erlebt, wären die kritischen Minderheiten in ganz Europa – vor dem Hintergrund einer lauernden und durch die Strategie der Austerität hervorgerufenen Stagnation, die letztlich auch den reichsten Kern der historischen EU betreffen kann – längst von der fatalen Verbindung zwischen einem technokratischen Austeritäts-Europäismus und einem aggressiven Anti-EU-Nationalismus erdrückt worden. Tatsache ist, dass Perplexität und Ratlosigkeit unter den Akteur_innen einer radikalen Kritik, die gegen Ende der 1990er und Anfang der 2000er auftauchte, immer mehr um sich greifen, als hätte uns die falsche Syntax der Landschaft des Finanzcrashs nach 2008 in eine angenehme Starre versetzt oder uns dazu gezwungen, uns an den verzweifelten Ton der utopischen Ikonen radikaler Kritik in den 1930ern zu klammern. Es ist nicht der Moment für eine Interpretation von Walter Benjamins Angelus Novus. Wir sollten uns dem hartnäckigen Einkasteln in der Rolle sophistizierter Kassandras einer imminenten europäischen Katastrophe entledigen. Es ist hoch an der Zeit, mit aller Kraft zur Konstruktion wahrer intellektueller, künstlerischer und politischer Verkettungen beizutragen und die Plätze und Netzwerke des europäischen Mainstreams zu besetzen. Es hilft überhaupt nichts, wenn wir endlos über die absehbare Resilienzfähigkeit der demokratischen Strebepfeiler der EU oder über mutmaßlichen demokratischen roten Linien Europas grübeln. Diese wurden bereits verkauft. Der Wettlauf hat schon begonnen.

Das grundlegende Problem hinsichtlich der hier von uns vorgestellten Charta, besteht folglich darin, ob sie so weiterentwickelt und verwendet werden kann, dass sie den Prozess, der sich um das Treffen El nuevo rapto de Europa herauskristallisierte, anreichert und ausweitet. Das sollte nicht nur die bereits in Unruhe versetzten Individuen und Gruppen betreffen, sondern auch die europäischen Kulturinstitutionen. Die gegenwärtige Trennung innerhalb der EU zwischen Norden und Süden sowie Osten und Westen trägt – entgegen der immer hohleren und magereren Rhetorik und Programme der Europäischen Kommission – in keinem Fall zu einem wirklichen Fortschritt in diesem Sinne bei. Die europäischen Kulturinstitutionen sollten in der Lage sein, die internen und externen Widersprüche hinsichtlich der Mainstream-Agenden zu problematisieren, damit sie sich in einen der Köpfe der neuen demokratischen europäischen Hydra verwandeln. Und das soll, so haben wir gehört, das Ziel der Internationale sein.

Aus dem Englischen von Birgit Mennel

Tallerdemocracia2

Workshop - Teil des Seminars The New Abduction of Europe, Februar 27- 28 und März 1 2014, MNCARS, Madrid.


Eine Charta für Europa, 1.2

Präambel

(1) Wir leben in verschiedenen Teilen Europas, mit verschiedenen historischen, kulturellen und politischen Hintergründen. Wir kommen alle ständig in Europa an. Wir teilen Erfahrungen sozialer Bewegungen und Kampfe, sowie auch gemeinsame Erfahrungen kreativer politischer Arbeit in unseren Kollektiven auf Gemeinde-, nationaler oder transnationaler Ebene. Wir waren und sind Teil des Aufstands der Vielheiten seit 2011 an verschiedenen Orten der Welt. Wir gehen hier von einem unfertigen europäischen "wir" aus, das im performativen Prozess der Begegnung entsteht.

(2) Angesichts der Finanzkrise haben wir die Gewalt erlebt, die die Austerität mit sich bringt. Wir haben den Angriff auf bestehende soziale Rechte beobachten können, sowie die Ausweitung der Armut und Arbeitslosigkeit in vielen Teilen Europas. Wir haben eine radikale Transformation der EU erfahren, sie ist nun klar als Ausdruck und Artikulation kapitalistischer und finanzieller Befehlsgewalt erkennbar. Gleichzeitig konnten wir eine tiefgreifende Verschiebung der nationalen Verfassungsrahmen erleben, und haben gelernt, dass diese Rahmen keinen wirkungsvollen Schutz gegen die Gewalt der Krise bieten, sondern im Gegenteil für die grausame Herrschaft der Krise mitverantwortlich sind. In den Ruinen der repräsentativen Demokratie vervielfachen sich die xenophobischen Chauvinismen, die ethnischen Fundamentalismen, die Rassismen, antifeministische und homophobe Prozesse, neue und alte Formen von Faschismus. Wir lehnen uns gegen all dies auf.

Demokratie

(3) Die repräsentative Demokratie ist in der Krise. In einer von oben erzeugten Krise, von Seiten der internationalen Finanzmarkte, der Rating-Agenturen, der privaten Think-Tanks und der von Großkonzernen betriebenen Medien. Aber die Glaubwürdigkeit der Demokratie wird auch von unten in Frage gestellt. Uber Demokratie zu diskutieren, heißt aufs Neue einen gemeinsamen Sinn für Demokratie anzueignen und zu erfinden, die Rechte auf Commons zu garantieren, unsere Vorstellungen von Staatsbürger_innenschaft, Gleichheit, Freiheit, Frieden, Autonomie und Kollektivität zu transformieren.

(4) Die weltweiten Aufstände von 2011 haben die lebendigen Bedeutungen der Demokratie gerettet. Wenn wir in Europa Demokratie fordern, so wollen wir damit nicht den Glanz der alten nationalstaatlichen Demokratien zurückholen. Im Gegenteil wollen wir Institutionen erfinden, die dem in jenen Protesten gängigen Ausruf „Sie repräsentieren uns nicht!" gerecht werden. Wir wollen unseren Glauben an die Selbstregierung des "Demos" zurückgewinnen – wir bestehen auf den Begriff der Demokratie, auf dessen Neuerfindung und Transformation.

(5) Wir erleben eine postdemokratische Wende in Europa. Nationale Verfassungen werden privaten Interessen unterworfen, wenn die Troika budgetäre sowie sozialpolitische Entscheidungen ohne demokratische Legitimation umsetzt. Ähnlich ist die Sicherheit zu einem der zentralen Elemente in der Aushöhlung der Bedeutung und des Funktionierens von demokratischen Institutionen geworden. Austerität und Sicherheit geben eine allgemeine Veränderung der Rolle von Institutionen auf globaler Ebene vor, durch die Demokratie unmöglich gemacht wird.

(6) Was wir hier als Demokratie bezeichnen, meint eine Verfassung von unten. Wie können wir demokratische Selbstregierung in pluralistischer und partizipatorischer Weise denken? Wie können wir von den demokratischen Praxen auf den Plätzen rund um den Globus lernen und diese als Neuerfindung partizipativer Prozesse der Versammlung der Vielen begreifen, durch die wir uns eigene Richtlinien, Gesetze und Rechte schaffen? Wie kann dieser Prozess pluralistisch und föderalistisch gestaltet werden, aufbauend auf Netzwerken und Gefügen, auf Bewegungen und Beziehungen anstatt auf Identitäten, Funktionen und Rollen? Wir stellen uns dabei etwas vor, das jenseits jener juridischen Form der Demokratie liegt, die an einen nationalen Souverän gebunden ist. Wir wollen den Begriff öffnen, um demokratischen Praxen in das Soziale, den Alltag, die Produktion und Reproduktion des Lebens auszubreiten. Der Staat muss einer genauen Prüfung unterzogen werden. Wir müssen ihn herausfordern durch die Verbreitung radikaler Inklusion und die Erfindung demokratischer Werkzeuge von unten.

(7) Demokratie in Europa bedeutet für uns einen doppelten Prozess, in dem "Demokratie" und "Europa" verwoben, (wieder)angeeignet und neu erfunden werden müssen, und das auf Basis der transnationalen sozialen und politischen Kampfe der Vielen. Demokratie als Praxis. Demokratie für Europa.

Einkommen/Schulden

(8) Heute sind Schulden der Hauptmechanismus wirtschaftlicher Herrschaft und Kapitalakkumulation in Europa. Sie funktionieren durch ein vielschichtiges System, das gesamte Gesellschaften umfasst. So erfahren wir, dass Schulden alle angehen, Arbeiter_innen, Student_innen, Arbeitslose: niemand darf der neuen Schuldenökonomie entkommen.

(9) Wenn die Reproduktion des Lebens immer mehr an den Zugang zu Krediten gebunden ist, und so an wachsende private Verschuldung, werden Schulden und Einkommen zu zwei Seiten derselben Medaille. Das ist der ausgeprägteste Widerspruch der Krise: die Unterscheidung der privaten und anonymen Schuldner_innen von den vielen Verschuldeten. Ratingagenturen, Banker_innen und finanzielle Institutionen vertreten uns nicht.

(10) Der Kampf um die Demokratie bedeutet eine Bekämpfung der Erpressung durch öffentliche und private Verschuldung, eine Bekämpfung der Austeritätspolitiken, die sich katastrophal auf die Vielen auswirkt. Die Herausforderung besteht darin, diese verallgemeinerte private Verschuldung gegenüber den Wenigen des Finanzmarkts in eine gemeinsame Verschuldung der Vielen gegenüber den Vielen umzuwandeln. Geld und Finanzen müssen zurück in die Hände der demokratischen Vielen kommen. Das Grundeinkommen ist das Mittel, das wir für unsere gemeinsame Verschuldung der Vielen gegenüber den Vielen brauchen können. Es ist die Antwort auf die Anerkennung der Tatsache, dass Reichtum etwas ist, das wir gemeinsam schaffen.

Commons/Staat

(11) Die Demokratie geht als Prozess Hand in Hand mit der ständigen kollektiven Produktion und dem kollektivem Gebrauch der Commons. Diese kollektive Produktion der Commons ist der einzige Weg, Armut und Krieg zu verhindern und sozialen und kulturellen Reichtum zu schaffen. Dies ist eine Angelegenheit nicht nur der Verteidigung öffentlicher Politiken zur Erhaltung von Bildung, Gesundheit, Kultur und sozialem Wohlergehen, sondern auch der Bewegung in Richtung neuer Formen von Institutionen der Commons, als Mittel, die wir für unser Zusammenleben produzieren. Um das zu ermöglichen, haben die Menschen in Europa das Recht darauf, sich auf eine horizontale Weise der Vielen zu organisieren und damit eine neue Form der Demokratie zu schaffen und zu auszuüben.

(12) Quer durch Europa werden laufend neue Institutionen der Commons erfunden und aufgebaut, um dem Entscheidungsmonopol des Staates entgegenzutreten. Viele davon entstehen in den Kämpfen gegen die Krise, gegen die Austeritätspolitik und gegen deren Auswirkung auf das tägliche Leben der Menschen in Europa. Sie sind die ersten Schritte in Richtung einer Neuerfindung des politischen und sozialen Raums jenseits der Dichotomie von öffentlichem und privatem Sektor, die den politischen und sozialen Raum der Moderne strukturiert hat, in dem einerseits der Staat und andererseits der Markt die Reproduktion von Macht und Profiten garantierte. Staat und Markt sind dabei gescheitert, das Wohlergehen der Menschen in Europa sicherzustellen. Die Institutionen der Commons brechen mit dieser Logik der sozialen Reproduktion. Sie schaffen kollektive Formen der Reproduktion von Leben, die jenseits der Logik der Kapitalisierung wirken.

(13) Die Institutionen der Commons bauen auf kollektiver Entscheidungsfindung auf und müssen an Stärke gewinnen, um sich signifikant auf das Alltagsleben der Gesellschaft auszuwirken; das heißt, sie müssen Schritt für Schritt die dysfunktionalen Strukturen der Nationalstaaten ersetzen. Wir müssen die Verwaltung und die nationalen Bildungs-, Stadtentwicklungs-, Kunst-, Forschungs-, Sozial- und Gesundheitsinstitutionen demokratisieren, um so die Verwirklichung von Institutionen der Commons zu ermöglichen und deren Verbreitung und Nachhaltigkeit abzusichern. Das kann nur auf transnationaler Ebene passieren, im Widerstand gegen die globale Profitlogik und durch ein Verständnis von Europa als Raum der Demokratisierung von unten, der Commons schafft und schätzt.

Verwaltung/Regierung

(14) Das Problem liegt nicht darin, welche Staatsform die am besten geeignete für die Demokratie wäre, sondern in der Frage, wie wir regiert werden wollen. Die moderne repräsentative Demokratie basiert auf der Idee, dass die Vielen regiert werden sollen, indem sie auf die Wenigen im traditionellen Parteisystem reduziert werden. Verteilte Demokratie beruht hingegen auf der Möglichkeit der Selbstregierung der Menschen im Hinblick auf die wichtigsten Aspekte des gemeinsamen Lebens.

(15) Dass das Vorrecht der absoluten Herrschaft einfach einer separaten Körperschaft von professionellen Politiker_innen und Techniker_ innen anvertraut wird, kann keine Garantie für einen politischen Prozess im Sinne des Gemeinwillens darstellen. Wir müssen uns von der Vorstellung des Staats als Einheit lossagen: die Macht dieses Einen als Meister und Manipulator der Komplexität passt nicht zusammen mit der Praxis der Demokratie für die Vielen durch die Vielen. Repräsentative Demokratie ist zu einem technokratischen autoritären System degeneriert, einer "Regierung der unveränderlichen Realität", die sich auf die Verwaltung von Angst und Unterwerfung stutzt.

(16) Jenseits eines technokratischen Top-Down-Föderalismus denken wir, dass die Demokratie der Commons sich auf ihre lokale wie auf die transnationale Dimension stutzen muss. Natürliche und künstliche Commons können nicht "nationalisiert" und auch nicht von einer oligarchischen Technostruktur verwaltet werden. Eine Demokratie der Vielen kann nur als verteilte Demokratie existieren; sie kann nur durch eine Ausweitung offener und graswurzelformiger Netzwerke im Sinne des gemeinsamen Interesses erreicht werden. Es kann keine Macht über die Commons geben, nur ein gerechtes System verteilter demokratischer Gegenmachte, die auf Basis ihrer laufenden Interaktionen, Konflikte und Verhandlungen entscheiden.

Staatsbürger_innenschaft/Grenzen

(17) Eine Neudefinition der Staatsbürger_innenschaft in Europa muss von migrantischen Praxen der Grenzüberquerung und von der Aneignung der Staatsbürgerschaft jenseits nationalistischer und ausschließender Vorgeschichten ausgehen. Die verschiedenen Formen von Grenze, die wir täglich infrage stellen und bekämpfen, reichen von geografischen und Staatsgrenzen über Internierungslager für Migrant_ innen, bis hin zu elektronischen Kontrollsystemen, Mauern und Stacheldrahten. Aber sie bestehen auch in internen Kontrollen und Visaregimen, Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitsbewilligungen. Die Grenzen Europas reichen heute weit über den geographischen Rahmen der EU-Mitgliedsstaaten hinaus, auch weil die Kontrolle der Migration zunehmend externalisiert wird.

(18) Physische Grenzen werden durch die Bewegungen der sie Überquerenden, die zugleich von der Grenze durchquert werden, ständig angefochten und umgeformt. Verschiedene Praxen und Routen bringen Leute zum Eintreten, Verlassen und Wiedereintreten in den europäischen Raum. Aber auch die vielfachen Bewegungen der internen Migrant_innen drucken die klaffenden Unterschiede und Ungleichheiten in Europa aus und reagieren auf sie. Diese Praxen sind für die Anfechtung des heutigen Europas zentral, wie auch für einen Blick auf das mögliche Europa von morgen.

(19) Die Anfechtung der Staatsbürger_innenschaft in Europa braucht eine Wahrnehmung Europas "von der Grenze aus" – eine offene, anhaltende und inklusive Bürger_innenschaft stellen wir uns entkoppelt von Geburtsort und Abreiseort vor, unabhängig von dauerhaftem oder temporarem Aufenthalt, nicht den Bedingungen eines Arbeitsmarktes unterworfen, und wir wollen sie auch praktizieren, auf der Basis eines geteilten, offenen und demokratisch-sozialen Raums.

(20) Auch wenn der Begriff selbst in Frage gestellt werden kann, müssen wir jede privilegierte Position, die Forderungen nach „Inklusion" derjenigen herunterspielt, die materielle Einschränkungen, unterschiedliche Behandlung und differenziellen Zugang zu sozialen Rechten und Freiheiten erfahren, entschieden hinterfragen. Europa muss ein Friedensprojekt sein, nicht um die Sicherheit der eigenen Grenzen zu garantieren, sondern um die Absicherung von ökonomischen, sozialen und politischen Rechten zu gewährleisten.

(21) Wir wollen eine andere Art von konstituierendem Prozess, der auf sozialen und politischen Kämpfen im gesamten europäischen Raum aufbaut. Einen Prozess, der radikale politische und wirtschaftliche Veränderung in Europa ermöglicht und dabei die Sicherung von Leben, Würde und Demokratie ins Zentrum stellt. Dies ist ein Beitrag zur Schaffung und Entwicklung von Commons, ein Prozess demokratischer Wiederbelebung, in dem Menschen die Protagonist_innen ihres eigenen Lebens werden. Auf den Plätzen und in den Netzwerken haben wir eine einfache Sache gelernt, die unsere Weise, die Welt zu bewohnen, dauerhaft verändert hat: Wir haben begriffen, was „wir" gemeinsam erreichen können.

Wir laden Menschen in und außerhalb von Europa ein, mitzumachen und zu dieser Charta beizutragen, sie durch Kämpfe, Vorstellungskraft und konstituierende Prozesse zum Leben zu erwecken.

http://chartereuropa.net/wiki/Charter_1.1

Aus dem Englischen von Manuela Zechner.